Der Mann auf dem Eis
Patrick, der beste Hirte
„Sergeant Patrick“
Das mit der LB/E-Schule machte Patrick letztlich nichts aus. Es war nicht so, dass ihn das mit dem »schwer erziehbar« und »lernbehindert« irgendwie gestört hätte. Mit diesen Begriffen hatte Patrick sich noch gar nicht befasst – offen gesagt. War ihm auch egal gewesen, was diese neuen Lehrerinnen und fremden Frauen (alle total hässlich, außerdem) da über ihn erzählt hatten.
Patrick hatte sowie mit denen nicht geredet. Nur Name und Geburtsdatum verraten. Vielleicht noch die Nummer verraten. Aber sonst – Kopf senken, die Fresse halten, nicht reden. Patrick hatte das längst verinnerlicht.
Doch was Patrick schon irgendwie störte, war, dass die Kinder aus der Klasse jetzt nicht mehr mit ihm redeten. Dass die Eltern von denen ihn nicht so unbedingt mochten, das kannte Patrick schon von früher. Aber jetzt durfte er gar nicht mehr zu den Kindern, den Kindern aus seiner Klasse, in der er mal gewesen war.
Auch zu Fin nicht mehr, seinem letzter Freund in der 4B, wo er schon mal zum Computerspielen nach Hause gedurft hatte. Fin hatte einen ganz tollen Laptop, wo sie Bundesliga gespielt hatten. Konstantina, deren Vater immer gelacht hatte, wenn Patrick da war. Wo er sogar mal mit im Garten gewesen war. Wo es leckeren Kuchen gegeben hatte. Und Grillwürstchen. Auch für Patrick.
Oder die sanfte Jana, die nicht nur ein eigenes Fernsehen im Kinderzimmer hatte. PC mit Internet, das neueste Smartphone. Eine ganz Wand mit Schränken, nur mit Spielsachen, nur mit Anziehsachen. Gehörte alles Jana.
Patrick hatte diesen märchenhaften Luxus kaum glauben können. Jana dafür einfach nur bewundert. Andere Kinder hatten schon vorher nicht mehr ihm spielen wollen. Oder spielen sollen. Eltern hatten Patrick sogar weggejagt. So wie die Hausmeisterin immer die Polizei anrief, wenn Patrick nur vor dem Schultor auftauchte.
Schön. Sie waren alle feige. Feige, schwach. Und sowieso irgendwie so, wie Patrick nie hatte sein wollen. Der, der da über das Eis jagte, war nämlich eigentlich gar nicht Patrick. Der da aufspringen, laufen, hinwerfen, in Atemlosigkeit von Deckung zu Deckung über das Eis hasten – war nicht Patrick. Das war der Legionär, der Einzelkämpfer, der Soldat in der strahlend weißen Winterausrüstung, hinter den feindlichen Linien. Der feindliches Feuer auf sich zog. Aber viel zu schnell und viel zu beweglich vordrang. Um nicht getroffen zu werden. Der nicht aufzuhalten war.
Und vor allem – der zurückfeuerte.
Etwas Schlimmeres als Patrick, den eingesickerten Eiskämpfer hinter ihren Linien, konnte denen gar nicht passieren. Denn heute war Weihnachten.
Nur noch wenige Stunden bis zum Heiligabend. Und Patrick nicht der Typ, der sich kampflos ergab. Aus schneller Bewegung heraus ließ Patrick sich hinter die nächste Deckung fallen. Das Ziel vorher schon erfasst.
Im Fallenlassen die automatische Waffe in den Anschlag gebracht. Schon fetzten Patricks Feuerstöße in den Gegner. Patrick feuerte sparsam. Aber mit unglaublicher Kadenz. Wechselte nach jedem zweiten, dritten Feuerstoß die Deckung. Seine Garben zerschlugen alles: Glas, Lichter, Porzellan, Dekoration. War ja nicht so, dass Patrick Weihnachten, den Heiligabend, nicht kannte. War nur so, dass Patrick zu dem Heiligabend seine ganz eigene persönliche Beziehung hatte.
Weil er Heiligabend, in dem Sinne zumindest, so persönlich nun auch nicht unbedingt kannte.